"Wir
machen die Welt erträglicher"
Der amerikanische Musiker Bruce Springsteen, 52, über seinen Beruf,
die Kraft von Gospel und Blues und sein neues Album "The Rising", das
der Toten der Terroranschläge vom 11. September gedenkt
SPIEGEL:
Mr. Springsteen, in der Nacht, nachdem John Lennon erschossen wurde,
stiegen Sie in Philadelphia auf die Bühne und sagten: "Es ist eine harte
Welt, die uns zwingt, mit Dingen zu leben, die man schwer aushalten
kann. Und es ist hart, hier herauszukommen und heute ein Konzert zu
spielen. Aber es ist das Einzige, was wir tun können." Andere Menschen
reagieren auf Krisen mit Agonie, Sie greifen zur Gitarre. Was treibt
Sie in solchen Augenblicken zu Ihrem Lieblingsinstrument?
Springsteen:
Die Gitarre ist das Werkzeug, mit dem ich versuche, der Welt einen Sinn
zu geben. Andere Leute wenden sich in solchen Momenten den Freunden
oder der Familie zu, sie lesen oder schreiben. Ich ordne meine Erfahrungen
mit der Gitarre. Sie ist für mich so eine Art Schutzengel.
SPIEGEL:
Ist sie auch eine Art Waffe, mit der Sie versuchen, die Welt zu einem
besseren Ort zu machen?
Springsteen:
Ich glaube nicht unbedingt, dass wir Künstler die Dinge auf diesem Planeten
in Ordnung bringen oder managen können, aber ich werde den Verdacht
nicht los, dass wir manchmal in der Lage sind, die Sache erträglicher
zu gestalten. Künste wie Musik und Film sind dazu da, aber auch die
Liebe und die Freundschaft.
SPIEGEL:
Nach den Anschlägen vom 11. September ist es in der Popkultur ziemlich
still geworden. Außer mit ein paar Benefiz-Konzerten hat sich kaum jemand
getraut, sich mit der Katastrophe künstlerisch zu beschäftigen. Warum
haben Sie es gewagt, mit Ihrem neuen Album "The Rising" das Desaster
zu verarbeiten?
Springsteen:
Wenige Tage nach dem Anschlag kurbelte ein Mann auf einem Parkplatz
am Strand von New Jersey im Vorbeifahren sein Autofenster herunter und
rief mir zu: "Wir brauchen dich!" Wie ich später herausfand, hat er
am 11. September einen sehr guten Freund verloren. Das hat mich ermutigt,
mich der Sache anzunehmen.
SPIEGEL:
Trotzdem sind Sie bislang in der Popkultur ziemlich allein ...
Springsteen:
... ich bin mir sicher, dass es in einiger Zeit mehr Filme und Platten
geben wird, die sich mit dem 11. September beschäftigen. Das Medium
Musik hat den Vorteil, dass man mit ihm relativ schnell reagieren kann.
Musik ist eine ziemlich spontane Angelegenheit, und sie erlaubt es einem,
im besten Fall relativ unabhängig zu arbeiten. Ich schreibe einen Song
in meinem Zimmer an einem Nachmittag, manchmal in nur einer Stunde oder
einer halben. Dann am Abend gehe ich ins Studio und nehme das Ganze
auf.
SPIEGEL:
Was war Ihre unmittelbare Reaktion am 11. September?
Springsteen:
Ich ging in die Kirche. Wir haben da, wo ich wohne in New Jersey, eine
ziemlich kleine mit sehr entspannten Leuten. Ich, meine Familie, meine
Kinder, wir wollten einfach nicht allein sein in diesen Tagen.
SPIEGEL:
Wie haben Sie Ihren drei Kindern das Desaster erklärt?
Springsteen:
Ich konnte ihnen nichts groß erklären, weil mir selbst keine Erklärung
einfiel, die mich befriedigt hätte. Die Aufgabe von Eltern ist es in
einem solchen Augenblick, den Kindern das Gefühl von Sicherheit zu geben,
ohne sie dabei anzulügen. Das Wichtigste in solch einem Moment ist es,
einfach da zu sein und weiterzumachen: "Okay, wir stehen morgen früh
wieder auf, und ich fahre euch zur Schule."
SPIEGEL:
Auf Ihrer CD "The Rising" erzählen Sie die Geschichten von Feuerwehrleuten,
die ihren Job mit dem Leben bezahlten; Sie schildern das Dasein von
Menschen, die trauernd zurückgelassen werden, und Sie fabulieren über
eine Versöhnung der unterschiedlichen Kulturen. Die Witwe eines Feuerwehrmanns
namens Stacey Farrelly haben Sie sogar angerufen. War diese Art Recherche
für Ihr Songwriting nötig?
Springsteen:
Ich würde es nicht Recherche nennen. Ich bekam eine Menge Briefe von
Leuten, die mich kennen und baten, bei gewissen Menschen, die es schwer
getroffen hatte, einmal anzuläuten. Allein aus unserer Gegend in New
Jersey, dem Monmouth County, kamen am 11. September in den Türmen 158
Leute ums Leben. Ich nahm den Telefonhörer nicht in die Hand, um Material
für meine Songs zu suchen. Ich tat es, weil es sich gehört, dass man
in einer kleinen Community wie der unseren sein Beileid ausdrückt.
SPIEGEL:
In den Nachrufen der "New York Times" konnte man lesen, dass viele der
Opfer Fans von Ihnen waren; bei Bestattungen wurden Ihre Songs gespielt;
das "Time"-Magazin feiert Sie auf dem Cover. Wurde und wird Ihnen bei
so viel Heldenverehrung nicht ein wenig mulmig?
Springsteen:
Mit der Vorstellung, dass Musiker Helden sein sollen, habe ich mich
immer schwer getan. Okay, einige dieser Leute mochten meine Musik, und
dies festzustellen, war sehr bewegend für mich. Denn ein Bestandteil
im Leben unserer Fans zu sein, das war stets unser Ziel, von Anfang
an. Ein Teil, so tief es nur eben ging.
SPIEGEL:
Hatten Sie manchmal Angst, Ihnen könnte vorgeworfen werden, Sie plünderten
die Tragödie für Ihre Arbeit aus?
Springsteen:
Ich habe über solche Leute die letzten 30 Jahre geschrieben. Die Enttäuschungen
und Erfüllungen des amerikanischen Traums sind mein Thema. Es geht mir
um die Würde normaler Menschen, um Typen, die ihren Job tun ...
SPIEGEL:
... die kleinen Helden des Alltags ...
Springsteen:
... dies sind die Menschen, die mich bewegen. Die mich dazu bringen,
Songs zu singen. Mit anderen Worten: Ich hatte keine Angst vor dem Vorwurf
der Ausplünderung, weil ich in all den Jahren eine Sprache für diesen
Alltag entwickelt habe, die meine eigene ist und die vom Publikum verstanden
wird.
SPIEGEL:
Die Grundstimmung von "The Rising" ist oft voller Dramatik, aber trotzdem
wirkt die CD nicht niederziehend. Im Gegenteil: Auch in der Agonie scheint
es für Sie Hoffnung zu geben. Woher nehmen Sie diese Art geschundenen,
aber nicht kaputt zu kriegenden Optimismus?
Springsteen:
Die Songs sind eine Mischung aus Blues und Gospel. Der Blues, das sind
die Nachrichten und Geschichten über das, was auf dieser Erde passiert.
Der Gospel versucht, den Weg in eine andere oder bessere Welt aufzuzeigen.
Diese beiden Elemente zusammengebracht, der Blues und der Gospel, haben
eine ungeheure Kraft. Oft lasse ich dem Blues die Strophe und reiße
dann die Sache mit einem Gospelrefrain nach oben. Songs wie "The Rising"
oder "The Promised Land" sind Beispiele dafür. Dem Blues und dem Gospel
verdanken meine Songs die Spannung.
SPIEGEL:
In "Empty Sky", einem Ihrer neuen Songs, hadert eine Witwe mit der Tatsache,
dass ihr Mann einfach in der Asche der Türme verschwand und von ihm
nichts übrig blieb, was sie hätte beerdigen können. Wie wichtig, glauben
Sie, ist es für die Überlebenden, die Toten zu sehen, um Abschied nehmen
zu können?
Springsteen:
Ich bin irisch-italienischer Abstammung, und für uns gehört das Anschauen
der Toten zum Leben. Ich selbst habe meine Tanten, meine Onkel, meine
Opas und Omas irgendwann aufgebahrt gesehen. Manchmal haben solche Zeremonien
drei Tage gedauert. Die Leute standen herum, es wurde geredet, getrauert,
gelacht, gegessen, gebetet, die Menschen gingen weg und kamen wieder.
Als mein Vater starb, war es für meine Kinder sehr wichtig, seinen Leichnam
noch einmal zu sehen und anzufassen. Diese Zeremonie macht es für die
Überlebenden leichter, Abschied zu nehmen. Meine Kinder zum Beispiel
haben meinem Vater kleine Briefe und Spielsachen mit in den Sarg gepackt.
SPIEGEL:
Was Ihrer CD "The Rising" völlig fehlt, ist der Wunsch nach Rache. Dagegen
mischen Sie auf dem Song "Worlds Apart" - einer Geschichte zweier Liebender,
die zwei unterschiedlichen Kulturen angehören - den Beat des Rock'n'Roll
mit arabischen Gesängen. Ist das - mal wieder ganz Gospel - ein Plädoyer
für Versöhnung statt Konfrontation?
Springsteen:
Die Suche nach dem Dialog scheint mir eine Aufgabe zu sein, die sich
ein Künstler stellen sollte. Mich interessiert, wie sich die Kulturen
begegnen und die ideologischen Barrieren niederreißen können. Mit dem
Beharren auf Wahrheiten kommen Sie da nicht weiter. Deshalb heißt eine
Zeile in "Worlds Apart": "The truth just ain't enough / Or it's just
too much in times like this / Let's throw the truth away / We'll find
it in this kiss."
SPIEGEL:
Seit zwei Wochen sind Sie auf Ihrer ersten Tournee nach den Anschlägen.
Gibt es Unterschiede zu den vorhergehenden?
Springsteen:
Ja. Die Leute kommen diesmal nicht, um eine Greatest-Hits-Show zu hören,
sie wollen unsere neuen Songs. Das ist schon ein ziemliches Privileg,
dass mir so was mit meinen 52 Jahren noch passiert. Ich meine, die Leute
haben nichts dagegen, wenn ich dazwischen eines meiner alten Stücke
spiele. Vor allem aber interessiert sie das Neue.
SPIEGEL:
Sie sind zwar berüchtigt dafür, dass Sie sich bei Ihren oft dreistündigen
Shows bis an den Rand des Zusammenbruchs verausgaben - und gelten trotzdem
als Mann, dem die Selbstzerstörungswut vieler Rockstars sehr fremd ist.
Woher kommt diese Sehnsucht nach Dauer in einem schnelllebigen Geschäft?
Springsteen:
Der Todeskult des Rock'n'Roll ist nicht mein Ding. Wir wollten mit unserer
Musik in dieser Welt etwas erreichen. Ich habe von Anfang an unsere
Arbeit als etwas Langlebiges gesehen. Die E Street Band sollte lange
bestehen, und die Musik ebenso - bis ich ein alter Mann bin. Mir gefällt
es, Marlon Brando zu sehen, munter und vergnügt. Dasselbe gilt für die
Stones. Ich wünsche ihnen allen ein langes Leben - egal, in welche Richtungen
ihre Karrieren sie führen. Ich würde auch gern einen alten James Dean
sehen. Es fasziniert mich mitanzusehen, wie sich die Leute durch ihr
Dasein navigieren. Natürlich gibt es da draußen und in uns Schmerz und
Ärger, Hass und Gewalt. Aber es gibt auch das andere: Hoffnung, Freundschaft,
Erfüllung, Liebe, Gemeinschaft. Und unsere Band versucht, einen Funken
zu schlagen genau in diese Richtung.
SPIEGEL:
So ehrenwert das klingt - auch Sie sind in Ihrer Karriere durch Krisen
gegangen. Mitte der achtziger Jahre verkauften Sie von Ihrem Erfolgsalbum
"Born in the USA" 30 Millionen Stück, heirateten eine schöne Schauspielerin,
lebten in Los Angeles in einem teuren Haus mit ebenso kostspieligen
Autos und versanken allmählich in der Depression. Sie hatten sich den
amerikanischen Traum vom Wohlstand erfüllt. Warum haben Sie ihn nicht
ausgehalten?
Springsteen:
Das kreative Leben ist etwas Organisches. Es ist nicht so, dass man
es festhalten kann. Es entwickelt sich, ob man will oder nicht. Es ist,
als ob man die ganze Zeit durch Nebel wandert. Ab und zu lichtet er
sich, und dann zieht er wieder dicht zu, und man ist sich nicht sicher,
ob er sich noch mal hebt. Man ist dauernd auf der Suche nach einer Stimme,
die zu einem passt.
SPIEGEL:
Mit Soloplatten wie "The Ghost of Tom Joad" hatten Sie sich in den vergangenen
Jahren weg vom Rock'n'Roll und hin zur Folkmusik gewandt, kommerziell
gesehen war dies eher ein Fiasko. War das der Grund, dass Sie Ende der
neunziger Jahre wieder mit Ihren Jungs, der E Street Band, auf Rock-Tournee
gingen?
Springsteen:
Ich hatte ein paar gute Songs geschrieben, und dann dachte ich einfach:
Die E Street Band und ich waren lange genug getrennt. Einige der Jungs
zählen schließlich zu meinen besten Freunden.
SPIEGEL:
Am Anfang Ihrer Karriere haben Sie einmal voller Idealismus gesagt:
"Eine Rock'n'Roll-Band besteht, so lange der Typ auf der Bühne ins Publikum
schaut und denkt: Da unten bin ich. Und der Typ aus dem Publikum hinaufschaut
und denkt: Der Mensch auf der Bühne, das bin ich." Haben Sie nach vielen
Millionen Dollar und 30 Jahren Rockruhm immer noch das Gefühl, einer
von denen da unten zu sein?
Springsteen:
In einem tieferen Sinn ganz sicher. Das ist der Rock des Rock'n'Rollers,
so wie ich ihn verstehe. Die Grenzen überschreiten, eine Verbindung
herstellen. Zeit, Alter, Mode - alles beiseite schieben und den Leuten
etwas von einem selbst tief drinnen präsentieren, von dem sie am Ende
sagen: Wir teilen uns eine Welt.
SPIEGEL: Sie sind
einer der erfolgreichsten Musiker in der Geschichte des Pop. Wo sehen
Sie selbst Ihren Platz in der Ruhmeshalle des Rock'n'Roll?
Springsteen: Ich
halte es da mit dem Baseball-Spieler Reggie Jackson, der, als er in
die Baseball Hall of Fame aufgenommen wurde, sagte: "Mein Name muss
nicht ganz oben auf der Liste stehen. Aber es ist gut zu wissen, dass
an dem Tag, an dem der ganze Zettel vorgelesen wird, auch mein Name
irgendwann drankommt."
SPIEGEL:
Sie wollten also nie Elvis sein?
Springsteen:
Natürlich wollte ich das. Solche Träume bringen einen erst mal dazu,
eine Gitarre in die Hand zu nehmen. Aber wenn Sie es mit diesem Beruf
ernst meinen und etwas von Ihrer eigenen Identität verstehen lernen,
dann merken Sie, dass Sie Ihren eigenen Weg suchen müssen. Ich tat es
als Arbeiter. Kein großer Sänger, kein großer Gitarrist, aber ich habe
es mir beigebracht, ebenso wie ich mir durch harte Arbeit beigebracht
habe, Songs zu schreiben und meiner Wahrnehmung von der Welt zu trauen.
Aber eigentlich ist all das nichts Besonderes. Ich bin nur ein weiteres
Glied in einer langen Kette. Keine schlechte Art, meine Zeit zu verbringen
hier auf dieser Erde, aber wenn ich einmal nicht mehr bin, wird ein
anderer meinen Job tun. So wie ihn einer getan hat, bevor ich daherkam.
That's fine with me.
SPIEGEL:
Könnte es sein, dass Ihre Fans Sie gerade wegen dieser Bescheidenheit
seit Jahrzehnten liebevoll "The Boss" nennen?
Springsteen:
Ich habe mich nie um diesen Titel gestritten. Gut, mit der Zeit habe
ich gelernt, ihn zu akzeptieren. Aber wenn ich es mir aussuchen könnte,
wäre mir Mr. Springsteen lieber. Oder einfach: der Typ aus New Jersey.
SPIEGEL:
Mr. Springsteen, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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Das Gespräch führte Redakteur Thomas Hüetlin in Cleveland, Ohio.
Ausgabe
34/Spiegel |