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The Wild, the Innocent and the E-Street Shuffle

Aufgenommen im Juli, August 1973 in den 914 Sound Studios, Blauvelt, N.Y.
Veröffentlicht am 05. November 1973
  
Mitwirkende Künstler:
  Bruce Springsteen - Gitarre, Gesang, Harmonika, Bass
  Danny Federici - Keyboards, Gesang
  Clarence Clemons - Saxophon, Gesang
  Vini Lopez - Drums, Gesang, Horn
  Garry Tallent - Bass
  Albany Tellone - Saxophon
  Richard Blackwell - Percussion
  Shuki Lahav - Gesang
  Albee Tellone - Saxophon
 
Produktion:
  Lois Lahav - Tonmeister
  David Gahr - Coverfoto
  Theresa Alfiere - Cover Design
 
Tracklist:
  The E Street Shuffle 
  4th of July, Asbury Park (Sandy) 
  Kitty's Back 
  Wild Billy's Circus Story 
  Incident on 57th Street 
  Rosalita (Come Out Tonight) 
  New York City Serenade
  
Infos:
Nach dem Erscheinen von "Greetings from Asbury Park" wurde sein damaliger Ansprechpartner bei CBS Records fristlos gefeuert. Clive Davis war neben John Hammond immer ein grosser Befürworter und Förderer von Bruce Springsteen gewesen.
Bruce Springsteen ging im Sommer 1973 wieder ins Studio und nahm sein zweites Album auf.
Für "The Wild, the Innocent and the E-Street Shuffle" wurden viele sogenannte Outtakes eingespielt, die aber niemals veröffentlicht wurden, z.B. "Something You Got", "Phantoms", Seaside Bar Song" sowie "Thundercrack".

Weitere Songs, die für "The Wild, the Immocent and the E Street Shuffle" aufgenommen wurden:
 - Angel's Blue
 - Secret to the Blues
 - Phantoms
 - Evacuation of the West
 - The Fever
 - Santa Ana
 - New York Song
 - Shootout in Chinatown
 - Small Town
 - The Late Show
 - Helen Blue
 - Daytona Mission

Nach dem Erscheinen der zweiten Platte weigerte sich CBS, Geld in Werbung zu stecken. Doch einflussreiche Musikkritiker waren von "The Wild, The Innocent and the E-Street Shuffle" hellauf begeistert. Jon Landau, damals einer der wichtigsten Musikkritiker des ganzen Landes schrieb in seinem Bericht im "Real Paper":

I saw rock and roll future and its name is Bruce Springsteen. And on a night when I needed to feel young, he made me feel like I was hearing music for the very first time
- Jon Landau, The Real Paper, 22. April 1974

1987 wurde das Album von der amerikanischen Musikzeitschrift "Rolling Stone" auf Platz 51 der 100 besten Alben der letzten 20 Jahre gewählt. Ausserdem nimmt "The Wild, the Innocent & the E Street Shuffle" Platz 132 der Rolling Stone Liste der "500 besten Alben aller Zeiten" ein.

Veröffentlichte Singles:
 - Rosalita (USA - 1974)
   A-Seite: Rosalita
   B-Seite: Spirit in the Night
  
- 4th of July, Asbury Park (Sandy) (Europa - 1974) 
   A-Seite: 4th of July, Asbury Park (Sandy)
   B-Seite: The E Street Shuffle
  
Interpretation:
(von Forenuser Ragman)

The Wild, the Innocent & the E Street Shuffle kann in vielerlei Hinsicht als Episoden aus einem Sommer angesehen werden und das Foto der Band auf dem Backcover gibt ein ziemlich gutes Gefühl davon, in welcher Atmosphäre dieser Sommer verlief. Das sonst in allen anderen Alben von Springsteen bis zum letzten ausgepresste Symbol der Straße als Zeichen der Veränderung, der Zukunft, der Ungewissheit und der Hoffnung wird hier höchstens einmal am Rande erwähnt. Dennoch bleibt die Entwicklung nicht stehen. Es herrscht Aufbruchstimmung unter den Charakteren. Alle sind gerade "auf dem Sprung", Sandy und ihr Liebhaber werden sich vielleicht nie wieder sehen (...I may never see you again...), der Zirkus in Wild Billy's Circus Story ist auf dem Weg nach Nebraska und der Erzähler in Rosalita will runter nach Kalifornien. Dieser Wille zum Aufbruch wird sich auf dem nächsten Album noch in die Notwendigkeit des Aufbruchs steigern, bevor er in Jungleland bitter abgeschmettert wird. Der Sommer dieses Albums bereitet auf den Tag vor, an dem das Born To Run Album sich ereignet, und sich alles urplötzlich ändern wird.

Das Album selbst hat zwei Teile, der erste (von E Street Shuffle bis Wild Billy's Circus Story) findet in Asbury Park statt, der zweite (ab Incident...) in New York. Trotz dieser formal strikten Trennung gibt es in den einzelnen Liedern immer wieder Querverweise zu anderen, wobei die kulturelle Verbundenheit zwischen Asbury Park und New York deutlich gemacht wird. Häufig übersehen ist dabei der Bezug zur New Yorker Latino-Szene, die von den Halbstarken in Asbury-Park versucht wird zu imitieren.

Dieses Motiv lässt sich vermutlich über die Geschichte der Latinos in New York erklären. Diese haben ihre Heimat verlassen und sind dann in New York "hängengeblieben", sie sind zum Hauptbahnhof (siehe Teil 1) gekommen, wissen aber nicht wohin sie von hieraus fahren sollen.
Die Charaktere in The Wild, The Innocent & The E Street Shuffle sind ähnlich zwiegespaltene Wesen gefangen zwischen Kommen und Gehen.

The E Street Shuffle dient als "Scene-Setter", also zum Erzeugen der Atmosphäre, vor dessen Hintergrund die einzelnen Episoden stattfinden. Besonders das Intro legt die Vorstellung von einer spontan, improvisierten Session der unterschiedlichsten Musiker an einem heißen Sommertag nahe.

Von der stylistischen Form zwar eher mit Blinded By The Light und Does This Bus Stop at 82nd Street verwandt, scheint es inhaltlich jedoch eine Fortführung von Spirit in the Night zu sein. Greasy Lake ist hier zur E-Street geworden.

   all the kids are there

heißt es am Ende und fügt sich damit in Spirit in the Night, in dem Greasy Lake der Schnittpunkt aller Charaktere darstellt. Hier ist es die E Street. Bald wird es die 10th Avenue sein und danach verliert sich dieser Ort und wird erst 2002 in Mary's Place wieder auftauchen. Denn nach Born To Run geht jeder der Charaktere seinen eigenen Weg, man trifft sich nicht mehr ständig und niemals treffen sich alle zusammen, nur manchmal wie in Glory Days kreuzt sich der Weg zweier Personen wieder.

Man kann sich durchaus vorstellen, dass Power Thirteen, Little Angel und die "boy-prophets" aus Asbury Park sich später in New York in Spanish Johnny, Puerto Rican Jane und den "little barefoot street boys" widerspiegeln, sozusagen als "New-Yorker-Version" jener Menschen, die auch in Asbury Park leben, der Unterschied besteht also nicht in den Menschen selbst, sondern nur in dem Ort, in dem sie leben.

Der Ort, in dem man lebt, bestimmt die Art, in der man lebt. Daraus wiederum folgt, dass man sich nur verändern kann, wenn man an einen anderen Ort geht.

In Sandy wird deutlich, dass das Latino-Motiv als Spiegelmotiv dient, wenn es heißt

   And the boys from the casino
   dance with their shirts open like
   Latin lovers along the shore
   Chasin' all them silly New York girls


Ansonsten nimmt das Lied das Motiv aus Mary Queen wieder auf. Der Erzähler ist hier allerdings schon losgelöst von Sandy. Sie ist Teil dessen, von dem er bisher abhängig war (...boss's daughter...), sich jetzt aber befreit hat (...he ain't my boss no more...). Er gibt ihr zwar den Ratschlag, es ihm gleich zu tun (...You know you ought to quit this scene too...), das ist aber lediglich eine gute Empfehlung, er selbst wird ohne sie gehen und selbst wenn sie auch gehen sollte, hätten sie wahrscheinlich nicht denselben Weg.

Sandy ist also nicht gleichzusetzen mit späteren Figuren wie Mary aus Thunder Road oder Wendy aus Born To Run, Sandy ist eher eine Sommerliebe. Sie ist untrennlich mit dem verbunden, dem er zu entfliehen sucht. Gleichzeitig ist sie Teil dessen, was ihm Kraft gegeben hat, diesen Schritt zu gehen (boss's daughter/he's not my boss anymore). Deshalb wird er sie nie vergessen (...love me tonight and I promise I'll love you forever...), aber vermutlich auch nie wiedersehen (...love me tonight for I may never see you again...). Aus ihr wurde quasi die Kraft und der Wunsch zum Aufbruch geboren, sie ist aber nicht mehr Teil der Reise.

Kitty's Back ist vordergründig eine ganz geradlinige in sich geschlossene Geschichte. Kitty verlässt ihren Freund aus Asbury Park und heiratet einen angesehenen und gut aussehenden New Yorker (Big Pretty/Cat somehow lost his baby down on Bleecker Street). Dann aber kehrt sie zurück und obwohl "Cat" von ihr betrogen wurde, kann er ihr nicht widerstehen (...But she's so soft, she's so blue, when he looks into her eyes, he just sits back and sighs, ooh what can I do?...)

Im Rahmen des ganzen Albums (und dem Album davor und danach) bekommt es aber eine, wenn auch sehr verborgene Botschaft, die wie eine Vision erscheint von dem was mit Jungleland und später kommen wird. Hier ist Kitty diejenige, die es "fortzieht". In New York aber scheitert sie und kehrt deshalb zurück. Woran sie jedoch scheitert, erfahren wir nicht. Vielmehr steigt ihr ohnehin schon hohes Ansehen (...since Kitty left with Big Pretty things have got pretty thin...) noch weiter dadurch, da sie dort (in New York) war, wo alle anderen hinwollen. Hier wird die Mythologisierung von New York auf die Spitze getrieben, da die Faszination der Stadt als Ausweg oder Absprungbrett die Offensichtlichkeit des fatalen Scheiterns völlig in den Hintergrund drängt. Etwa so als hätte man unmittelbar nach dem Untergang der Titanic gesagt: "Ja, aber so eine Atlantiküberfahrt an sich ist schon klasse".

Wild Billy's Circus Story stellt zunächst eine für sich allein gestellte Nebenhandlung dar, die einen spätsommerlichen Jahrmarkt beschreibt. Dies gehört atmosphärisch wohl einfach zu einem Sommer dazu. Darüber hinaus ist hier entscheidend, dass der "Zirkus" eine temporäre Erscheinung ist. Kurzzeitig lebt ein sonst leerer Platz auf mit den unterschiedlichsten Charakteren, die man sich vorstellen kann. Der Zirkus ist eine eigene Stadt und so wie er kommt und wieder geht, kommt und geht auch das Asbury Park, so wie wir es kennen (wird viel später in My City of Ruins wieder aufgegriffen, bevor es den 9/11 Bezug bekam), nach Nebraska (...Nebraska's or next stop...) oder sonstwohin, auf jeden Fall aus den Augen derer, die dort verbleiben. Der Sommer und die Zeit in Asbury Park geht nun zu Ende. Wir sind hier nun unmittelbar vor dem Tag, der mit Thunder Road beginnt.

Der zweite Teil des Albums findet nun in New York statt, parallel zu den Ereignissen in Asbury Park.

Incident on 57th Street schließt an Lost in the Flood an und bereitet Jungleland vor. Während bei Lost in the Flood jedoch nur von außen beobachtet und die Auswirkungen beschrieben wurden, erfahren wir hier etwas mehr von den Menschen, die davon betroffen sind. Wir erfahren wie Spanish Johnny in die "Banden-Szene" gerät. Wir erfahren von seiner Liebe, von seinen Hoffnungen und seinem Leben. Wir erfahren, dass er ein Mensch mit denselben Träumen wie all die anderen Charaktere ist, die uns bis hierhin begegnet sind. Die Distanz, die jener Namenlose in Lost in the Flood hat, der sich für den "beautiful thud", den der aufschlagende Körper des angeschossenen Jugendlichen erzeugt, begeistert, sollte uns spätestens hier abhanden kommen. Letztendlich hätte der angeschossene Junge aus Lost in the Flood auch Spanish Johnny sein können (...screaming something in Spanish...).

   We may find it out on the street tonight baby
   Or we may walk until the daylight maybe


Hoffnung ist noch da, aber sie ist vage geworden (all die vielen may's und maybe's) und der Titel des Liedes Incident on 57th Street legt ein tragisches Ende von Spanish Johnny nahe, auch wenn es hier noch nicht direkt mit all seinen Folgen erwähnt wird. Dies wird dann in Jungleland erfolgen.

Rosalita führt Growin' Up und It's Hard To Be A Saint In The City fort. Hier begegnet uns der selbstbewusste, halbstarke Charakter aus diesen Liedern wieder und verbindet sich mit dem Thunder Road-Motiv. Es ist zum offenen Schlagabtausch gekommen zwischen den Abhängigkeiten, in die man geboren wurde (symbolisiert durch Rosie's Eltern), und dem Wunsch zur Befreiung davon. In gewisser Weise symbolisiert das Lied das erwachsenwerden. Die Abhängigkeit von den Eltern muss gelöst werden, damit man seinen Lebensweg weitergehen kann. Dabei wird die direkte Konfrontation mit diesen Abhängigkeiten als Ausweg angesehen:

   winners use the door

Dass er im Leben nicht weiterkommt, solange diese Abhängigkeiten zu seiner Herkunft bestehen, zeigt sich, als er versucht ohne Rosie fortzufahren:

   My tires were slashed and I almost crashed but the Lord had mercy
   My machine she's a dud out stuck in the mud somewhere in the swamps of Jersey


Er bleibt in Jersey (der Heimat) hängen, solange mit Rosie eine Verbindung dorthin bestehen bleibt.

New York City Serenade kann (ähnlich wie Wild Billy's Circus Story) als Vorabend von Thunder Road angesehen werden. New York wird wieder als Zwischenstation definiert. Allerdings wird hier erstmals die Gefahr des "Hängenbleibens" bewusst wahrgenommen. New York City Serenade schließt mit dem Prozess des Loslösens ab. Alle Diskussionen sind nun beendet. Jetzt gilt es nur noch eine Entscheidung zu treffen. Diese wird in Born To Run fallen. Und letztendlich zum scheitern führen.

   And when she turns this boy'll be gone
   So long, sometimes you just gotta walk on, walk on